Vierzehnter Abschnitt.
Vereinigung.

[88] Es (wird) gelehrt: oben im Abschnitt der Widerlegung der Sinne (indriya)1 lehrt man Sehen, das Gesehene, den Seher ausnahmslos als nicht erreicht. Weil diese drei Dinge nicht verschiedene dharmas sind, so ist nicht Vereinigung (saṃsarga). Den Sinn der Nicht-Vereinigung wird er jetzt lehren.

Frage: Weshalb vereinigen sich nicht die drei Dinge Sehen usw.?

Antwort:

Sehen, das zu Sehende, der Seher: diese drei haben jedes eine verschiedene Richtung; (da) so die drei dharmas verschieden (sind), sind sie niemals sich vereinigend. (XIV. 1.)

»Sehen«, das ist Gesichtssinn, »das zu Sehende«, das ist Sinnesbereich (gocara), »Seher«, das ist das Selbst (ātman). Diese drei Dinge, (die) jedes an einem verschiedenen Orte (Richtung) sind, (haben) niemals eine Zeit der Vereinigung. Verschiedener Ort: das Auge befindet sich innerhalb des Körpers, die Erscheinung (rūpa) befindet sich außen2, das Selbst: einige sagen, es befinde sich innerhalb des Körpers, andere sagen, es sei alle Orte durchdringend. Deshalb ist nicht Vereinigung. Ferner: wenn man sagt: »Es ist Sehen«, dann ist Sehen vereinigt, oder Sehen ist nicht vereinigt. Alles beide ist nicht richtig. Weshalb? Wenn (das einzelne) Sehen vereinigt ist, so wäre am (eig. »entsprechend«) Ort des Sinnesbereiches (gocara) der Sinn (indriya) (und) das Selbst (ātman). Nur ist diese Sache nicht richtig. Deshalb ist nicht Vereinigung. Wenn Sehen nicht-vereinigt ist, dann ist Sinn (indriya), Selbst (ātman), Sinnesbereich (gocara) jedes an anderem Ort befindlich, auch würde (trotzdem) Sehen sein, aber es ist nicht Sehen. Weshalb? Wie ein hier befindlicher[89] Gesichtssinn (cakṣur-indriya) nicht einen an einem anderen Ort befindlichen Krug sieht. Deshalb sieht beides nicht.

Frage: Selbst (ātman), Vorstellung (manas), Sinn (indriya), Sinnesbereich (gocara): da (diese) vier Dinge vereinigt sind, ist Entstehen des Erkennens. Man kann Krug, Tuch usw., alle Dinge erkennen. Deshalb ist Sehen, zu Sehendes, Seher.

Antwort: Diese Sache ist im Abschnitt über die Sinne schon widerlegt, jetzt wird er (sie) nochmals lehren. Ihr lehrt: Infolge der Vereinigung der vier Dinge entsteht Erkennen. Entsteht dieses Erkennen nach dem gesehen haben von Krug, Tuch u.dgl. Dingen, oder entsteht es, ohne sie noch zu sehen? Wenn es ohne noch gesehen zu haben entsteht, so ist es (noch) nicht vereinigt. Wie ist (da) Entstehen des Erkennens? Wenn (man) sagt: »Die vier Dinge vereinigen sich gleichzeitig, und Erkennen entsteht«, (so) ist dies auch nicht richtig. Wenn (sie) gleichzeitig entstehen, so ist nicht gegenseitige Abhängigkeit. Weshalb? Ist vorher Krug, dann Sehen, später Entstehen des Erkennens, dann ist gleichzeitig nicht das Frühere (und) Spätere. Wegen des Nichtseins des Erkennens sind Sehen, zu Sehendes, Seher auch nicht. So sind die dharmas wie ein Trug, wie Traum, nicht wahrhaftig seiend (eig. »vereigenschaftet«). Wie kann Vereinigung sein? Da ohne Vereinigung, sind sie leer. Ferner:

Leidenschaft (rāga), durch Leidenschaft Betroffenes (rañjaniya), der Leidenschaftliche (rakta) auch ferner sind so, die übrigen Bereiche (āyatana), die übrigen Qualen (kleśa) ausnahmslos auch sind ferner so. (XIV. 2.)

Wie Sehen, zu Sehendes, Seher sich nicht vereinigen, deshalb müssen auch Leidenschaft, durch Leidenschaft Betroffenes, der Leidenschaftliche auch ohne Vereinigung sein. Wie er die drei dharmas Sehen, zu Sehendes, Seher lehrt, so lehrt er Hören, zu Hörendes, Hörer (und) die übrigen āyatanas. Wie er Leidenschaft, durch Leidenschaft Betroffenes, den Leidenschaftlichen lehrt, so lehrt er Haß (dveṣa), Gegenstand des Hasses (dviṣya), den Hassenden (und) die übrigen Qualen (kleśa) usw. Ferner:

Verschiedene dharmas werden sich vereinigen, (aber) Sehen usw. sind nicht verschieden. Da (von einander) verschiedene Wesen nicht erreicht werden, wie vereinigen sich Sehen usw.? (XIV. 3.)[90]

Alle Dinge ausnahmslos, weil verschieden, vereinigen sich. Aber (bei) Sehen usw. ist Verschiedenheit nicht möglich. Deshalb ist nicht Vereinigen. Ferner:

Nicht nur des Sichtbaren usw.3 Verschiedenheit ist nicht erreichbar, alle dharmas, die es gibt, sind ausnahmslos auch ohne Verschiedenheit. (XIV. 4.)

Nicht nur die Verschiedenheit der drei Dinge, wie Sehen, zu Sehendes, Seher u.dgl., ist nicht erreichbar, alle dharmas ausnahmslos sind ohne Verschiedenheit.

Frage: Weshalb ist nicht Verschiedenheit?

Antwort:

Das Verschiedene ist durch das Verschiedene verschieden; das Verschiedene ohne Verschiedenes ist nicht verschieden. Wenn ein dharma aus (einem) Grund hervorgeht, (so) ist dieser dharma nicht verschieden vom Grund. (XIV. 5.)

Was ihr »verschieden« nennt, dieses Verschiedene nennt man eines verschiedenen dharma wegen »verschieden«. Ohne einen verschiedenen dharma heißt es nicht »verschieden«. Weshalb? Wenn ein dharma durch (viele) Bedingungen (pratyaya) entsteht, so ist dieser dharma nicht verschieden vom Grunde (hetu). Weil der Grund (hetu) vernichtet wird, wird auch die Folge4 vernichtet. Wie abhängig vom Dachsparren usw. das Haus ist. Das Haus ist nicht verschieden von dem Dachsparren. Da (wenn) die Dachsparren usw. vernichtet werden, auch das Haus vernichtet wird.

Frage: Wenn wahrhaftig verschiedene dharmas sind, welcher Fehler ist dann?

Antwort:

Wenn ohne Verschiedenes Verschiedenes wäre, so würde, abgesehen von dem Verschiedenen, (noch) ein Verschiedenes sein. Ohne ein Verschiedenes ist (es) nicht verschieden, deshalb ist nicht Verschiedenes. (XIV. 6.)

Wenn ohne Verschiedenes ein verschiedener dharma ist, so würde getrennt vom [übrigen]5 Verschiedenen (ein) verschiedener[91] dharma sein. Aber tatsächlich ist ohne Verschiedenes nicht (ein) verschiedener dharma. Deshalb ist nicht sonstiges Verschiedenes. Wie ohne Verschiedensein der fünf Finger die Faust verschieden ist (und so) verschiedene Faust ist, (so) würden hinsichtlich des Kruges usw. verschiedene Dinge verschieden sein. Nun ist ohne Verschiedenheit der fünf Finger der Faust Verschiedenheit nicht zu erreichen. Deshalb ist eine mit Hinsicht auf Krug, Tuch6 usw. verschiedene Faust kein verschiedener dharma.

Frage: In unserem sūtra wird gelehrt: Verschiedene Eigenschaft entsteht nicht durch Bedingungen (pratyaya). Da Unterscheiden allgemeiner Eigenschaften ist, ist verschiedene Eigenschaft, durch verschiedene Eigenschaften sind verschiedene dharmas.

Antwort:

Im Verschiedenen ist nicht Verschiedenheit im Nichtverschiedenen auch ist sie nicht; da Verschiedenheit nicht ist, so ist nicht dieses (und) jenes verschieden. (XIV. 7.)

Ihr sagt: wegen Unterscheidens von allgemeinen Eigenschaften ist verschiedene Eigenschaft. Wegen verschiedener Eigenschaften sind verschiedene dharmas. Wenn so, (dann) entstehen verschiedene Eigenschaften durch Bedingungen (pratyaya). So eben lehrt man den dharma der Bedingungen (pratyaya). Weil diese Verschiedenheit ohne verschiedene dharmas nicht erreichbar ist, ist Verschiedenheit durch verschiedene dharmas. Sie kann nicht allein erreicht werden. Nun ist in verschiedenen dharmas nicht Verschiedenheit. Weshalb? Weil vorher verschiedene dharmas sind, wie ist Verschiedenheit nötig? In nichtverschiedenen dharmas auch ist nicht Verschiedenheit. Weshalb? Wenn Verschiedenheit sich in nicht-verschiedenen dharmas befindet, so heißt es nicht »nicht-verschiedene dharmas«. Wenn (sie an) zwei Orten zusammen nicht ist, ist nicht Verschiedenheit. Da Verschiedenheit nicht ist, so ist auch dieser (und) jener dharma nicht. Ferner: Da verschiedene dharmas nicht sind:

Dieser dharma vereinigt sich nicht selbst, ein verschiedener dharma auch vereinigt sich nicht. Ein Vereiniger[92] und ein sich gegenwärtig Vereinigendes, die Vereinigung auch sind ausnahmslos nicht. (XIV. 8.)

Dieser dharma vereinigt sich nicht aus eigener Substanz; weil er einer ist. Wie ein Finger sich nicht mit sich selbst vereinigt. Ein verschiedener dharma auch vereinigt sich nicht; weil er verschieden ist. Weil, wenn verschiedene Dinge schon erreicht sind, es nicht nötig ist, sie zu vereinigen. So überlegt ist Vereinigen nicht erreichbar. Deshalb lehrt er: Vereiniger, sich gegenwärtig Vereinigendes, die Vereinigung sind ausnahmslos nicht erreichbar.

1

3. Abschnitt.

2

TE.: »außerhalb des Körpers«.

3

TE.: »nicht nur bei den dharmas des Sehens usw.«.

4

KE.: »das Verschiedene«.

5

Zusatz der TE.

6

Fehlt TE.

Quelle:
Die mittlere Lehre des Nāgārjuna. Heidelberg 1912, S. 88-93.
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